Ja, ich war zum ersten Mal in Indien, und bin sicherlich noch ein wenig überwältigt von all den Eindrücken. Mir ist auch bewusst, dass Indiens Aufstieg auf der Tatsache beruht, dass es dort eine schier unendliche Anzahl talentierter Menschen gibt, die immer bereit sind mehr zu leisten als der aktuell Verantwortliche. Das macht es natürlich schwer, Indien mit uns Deutschen, unseren Denkweisen und unseren Problemen zu vergleichen.
Dennoch müssen wir uns diesem Vergleich stellen, denn – Überraschung – wir konkurrieren direkt mit indischen Unternehmen. Es gibt keinen geschützten Raum, keine „Autorität“, die soziale Unterschiede ausgleicht. Der nackte Markt regiert, egal ob wir das gut oder schlecht finden.
IT bestimmt die Zukunftsfähigkeit
Die Zukunft liegt in Ländern wie Indien, China und dem Nahen Osten. Warum? Weil sie viel stärker von IT angetrieben sind. Und zugleich auch süchtig(er) danach sind – haben Sie schon einmal den Verkehr in Indien gesehen?
Inder haben einen erheblichen Vorsprung, eine unglaubliche Kompetenz in diesen Technologien, nicht nur in der Anwendung von Unterhaltungs-Apps wie unsere Jugendlichen. Viele denken, leben und träumen IT.
Nach der Präsentation der HR-Philosophie von drei indischen bzw. in Indien erfolgreich tätigen Unternehmen im Rahmen der Jahrestagung unseres Partnernetzwerkes Penrhyn International komme ich zu folgenden Feststellungen:
- Ideale Manager denken global, können unterschiedliche Zeitzonen managen und dürfen nicht selbstbezogen sein.
- Die traditionelle Industrie spielt kaum noch eine Rolle. Es geht um Ideen, die von IT getrieben werden, und nicht mehr um die Herstellung von physischen Produkten. Diese werden einfach nicht mehr so wertgeschätzt wie früher, sondern eher als Selbstverständlichkeit betrachtet.
- Ein Blick auf Kennzahlen wie „Rising Stars“, „Unicorns“ und „Kapitalflüsse“ zeigt, wohin die Reise geht. Die Inder passen sich schnell an neue Erkenntnisse an oder bringen sie selbst ein.
Zu diesem Thema hatten wir bereits in unserem Webinar China Speed versus Made in Germany augenöffnende Erkenntnisse in den Bereichen Organisation, Technologie sowie People & Culture gesammelt. - In ihren Expansionsplänen sehen indische Unternehmen vor, nach dem heimischen Markt in den Nahen Osten und dann nach Nord- und Südamerika zu expandieren, bevor Europa überhaupt ins Spiel kommt. Innerhalb Europas steht Großbritannien an erster Stelle, gefolgt von den Niederlanden und Spanien. Erst dann folgt schließlich Deutschland.
Unsere Hemnisse
Warum? Weil wir im Durchschnitt nicht gut genug Englisch sprechen. (Es ist im Mittelstand nach wie vor unmöglich, einen nicht deutschsprachigen Mitarbeitenden aus dem Ausland zu platzieren.)
Darüber hinaus sind wir zu wenig digitalisiert und haben zu hohe Steuern. Erschwerend hinzu kommt, dass unser Binnenmarkt derzeit schwächelt.
Wir sind also nicht offen genug, nicht attraktiv genug – das schließt Steuern genauso ein wie die Herausforderungen einer Relocation, z.B. im Umgang mit Behörden. Im Vergleich zu den meisten Ländern gibt es in Deutschland keine ernstzunehmende Digitalisierung. Ein indischer Top-IT-Experte wird nicht stundenlang im Bürgeramt Düsseldorf warten, um seinen Führerschein umzuschreiben. Und falls er es doch versucht und nicht zufriedenstellend bedient wird, zieht er bald weiter in die Schweiz oder nach Österreich. Die Zukunft hat keine Lust auf die Steinzeit.
Können wir aufholen?
Bleibt die Frage: Können wir jemals aufholen? Mit einer öffentlichen Struktur, in der das Faxgerät immer noch eine wichtige Rolle zu spielen scheint? Das Argument, dass man nach Deutschland kommen muss, weil der Markt attraktiv und groß ist, gilt nur, solange unser Binnenmarkt stark ist. Das ist er jedoch nicht mehr.
Während wir hier in Deutschland über die Vier-Tage-Woche diskutieren, wird in Indien, China und im Nahen Osten die Zukunft gestaltet.
Markus Lorch